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Arbeitsbedingungen in der IT

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28.09.2012 SAP feiert sich selbst: "40 Jahre SAP" als heile Welt und immer auf der Überholspur.

Berichte der internen Kommunikationsabteilung der SAP zeigen ein tadelloses Bild einer makellosen Erfolgsgeschichte des weltgrößten Produzenten von Unternehmenssoftware. Kritische Stimmen sollen nicht öffentlich werden. Gefeiert wird jedoch nicht mit allen: Der Betriebsrat wurde von einem Jubiläumskonzert zum 40-jährigen Firmenjubiläum Ende April 2012 im Opernhaus des Nationaltheaters in Mannheim ausgeladen. Schlagzeilen zum unternehmerischen Erfolg zeigen nur eine Seite der "Medaille" auf und verkehren die Folgen des sehr hohen Unternehmenswachstums für die Beschäftigten. Zwei SAPler zeigen die andere Seite.

Preisverdächtig ist der Managementspruch: "Der Markt will es so". Doch wer ist der Markt? Wer ist der oder die "Unbekannte", welche(r) die extrem hohe Gewinnmarge von 35% bis 2015 fordert? Der neoliberale Ökonom und Berater von Diktatoren Milton Friedman - er wäre am 31. Juli 100 Jahre alt geworden - würde sich sehr über die Umsetzung seiner marktradikalen Ideen freuen. Die Ziele und die Ergebnisverantwortung werden bei SAP vom Top-Management "nach unten" auf die einzelnen Beschäftigten weitergegeben. Diese werden mit ihrem Druck zur Selbstverantwortung alleingelassen.

Ein aktuelles Beispiel perfider "indirekter Steuerung" findet im Vertrieb statt. Mit dem Milliardenaufkauf eines Unternehmens wurden Tatsachen geschaffen und sogleich ein Konkurrenzprodukt im Konzern etabliert. Die betroffenen Bereiche sind dadurch in ihrer Existenz gefährdet, weil der dazugekaufte Mitwettbewerber ihre Produkte "schlecht redet" und die hinzugekauften Produkte aggressiv an den Kunden bringt. Der Einzelne hat dabei keine Chance direkt Einfluss zu nehmen, um seine Ziele wie geplant zu erreichen. Er ist den knallharten, vorgegebenen Rahmenbedingungen und der Willkür des Managements ausgesetzt. Die betroffenen Beschäftigten verlieren dadurch einen beträchtlichen Geldbetrag bei ihren variablen Gehaltsbestandteilen bzw. Boni und werden zunehmend demotiviert. Das kann nicht gesundheitsfördernd sein.

Permanente Sprints machen kaputt

Die Software-Entwicklung war früher das "Herzstück" und der Erfolgsgarant des Unternehmens SAP. Mit der Einführung der Rationalisierungsmethodik "Lean Production" vermehren sich seit Jahren die Anzeichen steigender, negativer Belastungen für die Beschäftigten. Lean ("Verschlankung") funktioniert nach dem Vorbild der Fließbandproduktion des japanischen Automobilunternehmens Toyota. Das heißt z.B. Just-in-Time-Produktion, Null-Fehler-Prinzip, Arbeiten in festen Intervallen und in vorgegebenen Takten. Aussagen von hochqualifizierten Software-Ingenieuren bestätigen den Trend einer taylorisierten, kleinteiligen Produktionskette: "So stelle ich mir Fließbandarbeit vor, das hätte ich nie gedacht, dass ich jemals den Sinn an meiner Arbeit verliere. Für Innovation habe ich keine Zeit, da Termine, Zahlen und Vorgaben mich erdrücken. Ich muss ja im Takt arbeiten." Positiv aus der Perspektive des Managements und Kapitaleigner ist die steigende Produktivität bzw. Wertschöpfung.

Hauptursache für die negative Entwicklungen ist der bewusst erzeugte Zeitdruck durch eine stringente Taktung der Arbeitsprozesse. Der Takt bestimmt den Menschen. Prozesse steuern den Menschen. Vorgegebene Ziele müssen innerhalb eines kurzen Zeitraums erledigt werden, z.B. die Entwicklung eines Software-Produkts innerhalb von zwei Wochen. Danach startet sofort der nächste Takt. Häufig wird die Kritik geäußert, dass es kaum noch Spielraum für "Zeit zum Atmen" gibt, keine Zeit zum Nachdenken und für Innovationen.

Zusätzlich belasten parallele Aktivitäten, Unklarheiten über Rolle und Verantwortlichkeiten, Probleme mit Tools und der Infrastruktur. Diese negativen Einflüsse überlagern eine mögliche positive Entwicklung erheblich.

Obwohl dem Management seit Jahren bekannt ist, wird nicht ernsthaft und nachhaltig an einer Senkung der arbeitsbedingten Belastungen gearbeitet.

Vielmehr gibt es Tendenzen, dass vermehrt Instrumente eingesetzt werden, die immer mehr den einzelnen Menschen bewerten - und nicht die Gefährdungen am Arbeitsplatz bzw. die Arbeitsbedingungen. Mit der resultierenden Arbeitsverdichtung wird zugleich schleichend Personal abgebaut und der Druck auf den einzelnen Beschäftigten weiter erhöht. Unterstützt wird dies durch eine "arbeitgeberfreundliche" Vertrauensarbeitszeit - ohne im Arbeitsvertrag darauf hinzuweisen, dass mit der 40-Stunden-Arbeitswoche jegliche Überstunden abgegolten sind. Nur das Ergebnis, das vorgegebene Ziel zählt. SAP verdiente in vier Jahrzehnten damit Milliarden von Euro.

Ein gelungenes Beispiel "indirekter Steuerung" bis in den Verantwortungsbereich jedes einzelnen SAP-Beschäftigten stellt aktuell ein "Kostensenkungsprogramm" dar. Dies wird in der Presse vom Arbeitsdirektor vehement dementiert, jedoch in einem weltweiten "Meeting" auf einer PowerPoint-Folie geschickt dargestellt, indem Kostenblöcke wie Reisen, externe Dienstleistungen, Personal und Weiterbildung als viel zu hoch eingestuft werden. Unsere Wirtschaftseliten agieren im "Casino Royale" grenzenlos: "Für die kommenden Monate in diesem Jahr heißt das, dass wir die Effektivität auf unserem derzeitigen Kostenniveau optimieren und eine weitere Steigerung der Ausgaben vermeiden müssen. Das wird dazu beitragen, unsere internen Ziele für dieses Jahr zu erreichen, wohingegen unsere Bonuszahlung beeinflusst werden könnte, wenn wir auf dem bisherigen Ausgabenniveau fortfahren." Und einer der Vorstandssprecher setzt noch eins drauf: "Wenn ihr die Olympischen Spiele verfolgt und jemand eine Goldmedaille gewinnt, denkt daran, diese auch für die SAP zu gewinnen."

Analyse folgt auf Analyse

Laut einer Auswertung der Techniker Krankenkasse verdoppelten sich die Arbeitsunfähigkeitstage von psychischen und verhaltensbedingten Störungen bei SAP im Zeitraum von fünf Jahren auf hohem Niveau. Dabei lag der Anteil der Langzeiterkrankungen 2011 bei 45%. Dieses Jahr werden es mehr als 500 Langzeitkranke sein. Die meisten werden wegen psychischer Störungen krank. Viele SAP-Beschäftigte äußern sich zu ihrer gesundheitlichen Perspektive sehr kritisch:

- "Wenn mich die jungen Kollegen nicht unterstützen würden, wäre ich schon längst weg. Auch die Jungen schaffen es oftmals nicht mehr und arbeiten krank weiter und fallen dann total aus."

- "Ich hatte zum zweiten Mal Tinnitus, das ist schon ganz normal, brauchte schon längere Auszeiten, auch meine Ehe ging kaputt, manchmal denke ich, wie soll ich den ewigen Druck noch zwei bis drei Jahre aushalten."

Die Folge permanenter Rationalisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen, zweistelligem prozentualem Wachstum, fortdauernder Beschleunigung zu mehr Effizienz und Effektivität und einer Arbeitskultur über das jeweilige Limit hinausgeht auf Kosten der Gesundheit aller Beschäftigten.

Marketinginstrument "SAP-Gesundheitswesen"

Das SAP-Gesundheitswesen definiert das Unternehmen SAP als ein "im Kern nachhaltig gesundes und erfolgreiches Unternehmen." Angesichts der genannten Werte muss dies nachhaltig bezweifelt werden. Weiter definiert sich das Gesundheitswesen als verlängerter Arm der Arbeitgeberin und "Erfüllungsgehilfe" im betriebswirtschaftlichen Sinne: "Das Thema der Zukunft ist jedoch nicht das Messen der physischen Abwesenheit (Absentismus), sondern die Frage, wie viel Produktivität dadurch verloren geht, dass Mitarbeiter dem Unternehmen nicht ihr volles Potenzial zur Verfügung stellen können (Präsentismus)." Von dieser Seite kann wenig Unterstützung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für eine gute Arbeit und für ein besseres Leben im Unternehmen erwartet werden. Sozialpartnerschaft definiert sich anders!

Wolfgang Hien, vom Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biografie, beschreibt die Verschleierung von Ursachen wie folgt: "Die moderne - oder besser 'postmoderne' - Arbeitswelt erscheint in vielen offiziellen Darstellungen als überaus positiv, gleichsam schon als 'Reich der Freiheit'. So wird beispielsweise auf der Homepage der regierungsamtlichen 'Initiative für neue Qualität der Arbeit' (INQA) das Unternehmen SAP als besonders gesundheitsförderlich gewürdigt. SAP verfüge, so heißt es dort, über ein 'vorbildliches Gesundheitsmanagement'. Was macht SAP und was machen vergleichbare Betriebe und Organisationen wirklich? Sie richten Massage- und Fitnessräume ein, die während der Arbeitszeit besucht werden. Sie bieten sogar Psychotherapie während der Arbeitszeit an. 'Das rechnet sich', sagen die Insider, denn die Leute sind sowieso 12 Stunden bei der Arbeit, oft auch am Wochenende. Die massive Intensivierung und Extensivierung der Arbeit und die daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen werden abgefedert, umgedeutet und systematisch umgelenkt durch ein derartiges Management. SAP reduziert, wie viele andere Unternehmen auch, sein Personal. Die Angst geht um ..."

Ergebnisse zur "Work-Life-Balance" im Rahmen von weltweit durchgeführten Mitarbeiterbefragungen durch die Arbeitgeberin wurden jahrelang ignoriert. Zuletzt mit der Begründung, dass das Engagement der Beschäftigten immer noch sehr hoch sei. Das Verhalten des Managements erscheint somit grob fahrlässig, wenn die "kollektiven Erschöpfungszustände" keine Beachtung finden.

Zudem äußerte sich einer der Vorstandssprecher in der Presse sehr despektierlich gegenüber den "Älteren", dass nur die Jungen innovativ seien. Den Betriebsrat tituliert er schon 'mal als "unmoralisch". Kein Zeichen "vertrauensvoller Zusammenarbeit".

Ein Personalverwalter meinte, dass die "Ressource Mitarbeiter" in anderen (Billiglohn-)Ländern genügend vorhanden sei, wenn wir in Deutschland niemand finden sollten. Außerdem kann jetzt mit Hilfe der Blue Card verbilligt Personal eingestellt werden. Aussagen, die vielen Menschen Sorgen bereiten und Ängste auslösen.

Von den wirklichen Ursachen der Gefährdungen soll geschickt abgelenkt werden. In einem der unzähligen Schreiben des SAP-Vorstands wird zum wiederholten Male angekündigt, dass "verstärkt" auf das Thema "Prozesse und Strukturen" geachtet werden soll, um Verbesserungen herbeizuführen: "Optimale Prozesse haben nachweislich positive Auswirkungen auf die Work-Life-Balance, die Service-Orientierung und die individuelle Leistung". Und dann wird noch eins draufgesetzt: "... 2012 ganz im Zeichen der Beschleunigung ..., was die SAP groß gemacht hat: eine Unternehmenskultur der Höchstleistungen. 2012 ist das Jahr, in dem wir richtig Gas geben und der Welt zeigen werden, was die SAP wirklich drauf hat." Es fehlt noch: Nur wir bekommen Gold.

Eine jüngst durchgeführte Befragung der IG Metall im Rahmen der Bundesinitiative "Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft" im Projekt "Arbeitsorientierte Innovationspolitik zur Sicherung und Förderung der Frauenbeschäftigung in industriellen Branchen" zeigt mehr als Warnsignale auf:

- 38% der Befragten bemerken eindeutige Stresssymptome, bei weiteren 27% kommt dies gelegentlich vor.

- Beruf und Privatleben ist für 32% der Beschäftigten schwer vereinbar, für 40% ist das teilweise so. Männer sehen hier etwas mehr Probleme als Frauen.

- In ärztlicher Behandlung aufgrund arbeitsbedingter Stresssymptome sind 18% der Befragten. Weitere 8% sind dies gelegentlich.

Die Erwartung, Mehrstunden zu arbeiten, erfahren 63% der Befragten - auch hier äußern sich die Männer kritischer. Beruf und Privatleben ist für 32% der Beschäftigten schwer vereinbar, für 40% ist das zum Teil so. Die hohe Scheidungsrate ist eine Auswirkung. Für diese Studie interessierte sich SAP nicht. Das ist nicht goldverdächtig.

Gefahren am Arbeitsplatz

Ihren Status als Schwerbehinderte melden viele Betroffene nicht, weil sie Nachteile bei ihrer beruflichen Entwicklung befürchten. Frauen werden anhand einer Studie systematisch in ihrer Karriere- und Gehaltsentwicklung benachteiligt. Für "Ältere" gibt es keine alter(n)sgerechte Arbeitsplatzgestaltung.

Junge Menschen, Zeitarbeitskräfte und Leiharbeitnehmer oder Beschäftigte mit Werkverträgen arbeiten oftmals unter prekären Bedingungen. SAP fördert die Entwicklung - wie es eine Kollegin sagte - zum "kranken Unternehmen", denn nur die hohe Rendite zählt.

Dem permanenten Leistungsdruck als Krankmacher am Arbeitsplatz kann daher nur mit einer ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung entgegengewirkt werden. Zu beachten ist jedoch, sich die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen genauer anzusehen und dessen Gefahren mit validen Instrumenten zu beurteilen. Eine Analyse des Menschen mit seinen Stärken und Schwächen kann dabei eher kontraproduktiv sein und entspricht allein dem Ziel eines "gläsernen Mitarbeiters".

Die Arbeit im Unternehmen ist so zu gestalten, dass ungünstige psychische Belastungen vermieden werden. Denn gegen vorgegebene Rahmenbedingungen, kann der einzelne Beschäftigte allein oft nichts unternehmen. Und: Auf Freiwilligkeit zu warten, das zeigt die Erfahrung, ist ein Fehler und illusorisch.

Zu guter Arbeit gehören deshalb Arbeitsbedingungen,

- die Gesundheit, körperliches und soziales Wohlbefinden stärken,

- die nicht oder wenig körperlich und psychisch belastend sind,

- die körperliche Einschränkungen berücksichtigen,

- die alters- und alternsgerecht gestaltet sind,

- die gleichberechtigte Teilhabe sicher stellen,

- die unsichere und diskriminierende Beschäftigungsverhältnisse unterbinden,

- die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben fördern,

- die humane Arbeitszeiten ermöglichen und

- die eine faire und gerechte Bezahlung sichern.

Gute Arbeit kommt nicht von allein. Dafür müssen wir streiten.

Ausblick

Die nächste Welle zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen rollt bereits auf uns alle zu: Die Arbeitswelt wird sich gewaltig verändern. Die Beschäftigten sollen zu "Cloud Workers" umfunktioniert werden. Festanstellungen fallen weg, dafür wird den Beschäftigten "Freiheit" suggeriert. Die Unternehmen heuern, je nach Bedarf, ihre Arbeitskräfte über ein virtuelles Netzwerk an. Die IT-Branche ist nur der Anfang dieser Entwicklung. In Zukunft sollen Beschäftigte in einem weltweiten Wettstreit gegeneinander konkurrieren und die Auftraggeber bzw. Arbeitgeber suchen sich die beste und womöglich billigste Leistung heraus. Für das Leben und Arbeiten in der "Wolke" wird kein Platz für Sonnenschein sein.

SAP forciert Instrumente "indirekter Steuerung" zur Erreichung der menschenverachtenden Gewinnmarge von 35%:

- immer höhere Zielsetzungen und Anforderungen,

- immer strengere Leistungserwartungen in Verbindung mit verminderten Gehaltszahlungen,

- immer mehr Prozesse steuern die Menschen und nicht umgekehrt,

- immer mehr Erreichbarkeit und Verfügbarkeit,

- immer mehr Fremdsteuerung "von oben" bei gleichzeitiger Verantwortung für die Ergebnisse,

- immer mehr Parallelarbeit in Projekten und immer mehr unbezahlte Arbeitszeit,

- immer weniger Bonuszahlung bei immer jährlich höheren Umsatzzahlen.

Autoren:

Udo Beck, Schwerbehindertenvertreter SAP AG

Ralf Kronig, Betriebsratsmitglied SAP AG, ralf.kronig@sap.com

Quelle: Computer und Arbeit, September 2012

Letzte Änderung: 27.09.2012

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